etruskische Schrift und Sprache

etruskische Schrift und Sprache
etruskische Schrift und Sprache
 
Aus der Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert stammen die ältesten etruskischen Inschriften, die jüngsten datieren in das 1. Jahrhundert v. Chr. Insgesamt sind über 7 500 Schriftzeugnisse der Etrusker überliefert, und ihre Zahl steigt ständig durch neue Ausgrabungen. Gefunden in Gräbern, Heiligtümern und vereinzelt in Wohnsiedlungen geben sie in erster Linie die Namen derer wieder, die das beschriftete Objekt besessen haben (Besitzerinschriften) oder es in ein Heiligtum stifteten (Weihinschriften), wobei nicht selten auch der Adressat, die Gottheit, namentlich genannt ist. Das Lesen dieser meist sehr kurzen Texte bereitet in der Regel keine Schwierigkeiten, wurde doch ein Alphabet gewählt, das aus Griechenland stammte und den Etruskern über die neu gegründeten griechischen Kolonien im unteritalischen Kampanien vermittelt wurde, das chalkidische oder westgriechische Alphabet.
 
Schon im 7. Jahrhundert v. Chr. hat sich die Schrift im gesamten Siedlungsgebiet der Etrusker verbreitet, wobei die Gattung der häufig vertretenen »Musteralphabete«, so auf einem Buccherogefäß im Pariser Louvre oder auf einer Schrifttafel aus Marsiliana d'Albegna, eine bedeutende Rolle beim Erlernen und der Ausbreitung der Schrift gespielt haben dürfte. Wir erkennen, dass dort sämtliche griechischen Buchstaben in der uns geläufigen Form und Abfolge vorkommen. Andererseits zeigen die etruskischen Schriftdenkmäler, dass einige dieser auf den Musteralphabeten vertretenen Buchstaben, nämlich b, d, g und o, in keiner der etruskischen Inschriften vorkommen, weil deren Laute in der Sprachpraxis nicht existierten und deshalb im Schriftbild entfallen konnten - vergleichbar im Deutschen etwa die Verwendung nur eines o-Lautes beziehungsweise nur eines Schriftzeichens für diesen Laut, während im Griechischen unterschieden wir zwischen Omikron (kurzes o) und Omega (langes o).
 
Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurde konsequent an den Buchstabenformen des griechischen Alphabets festgehalten. Zu den Ausnahmen zählt die Einführung eines eigenen F-Buchstabens in der Form der Zahl 8 oder unterschiedlicher Sibillanten-(Zischlaut-)Zeichen, da offensichtlich ein Mehrbedarf für s-Laute bestand. Das schließt eine Reihe lokaler und zeitlicher Abweichungen und Entwicklungen nicht aus. So unterscheidet die Forschung zwischen dem nord- und dem südetruskischen Alphabet sowie zwischen alt- und jungetruskischen Inschriften. Letztere setzen um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein und zeichnen sich dadurch aus, dass kurze Binnenvokale nicht mehr geschrieben werden (die Synkopisierung), zum Beispiel »aplu« statt altetruskisch »apulu« (die etruskische Entsprechung für den griechischen Gott Apoll) oder »lautn« anstelle von ehemals »lautun« (= Sklave).
 
Im Gegensatz zur Lesbarkeit der Schrift bereitet das Verständnis der Sprache weiterhin erhebliche Schwierigkeiten. Das liegt zum einen daran, dass das Etruskische vom Wortschatz und der Grammatik her unter den erhaltenen antiken Sprachen weitgehend isoliert dasteht, und zum anderen daran, dass wörtlich übereinstimmende Texte des Etruskischen mit dem Lateinischen oder Griechischen, also längere Bilinguen, bisher fehlen.
 
Auch jene 1964 entdeckten Goldtäfelchen aus dem Küstenheiligtum von Pyrgi, zwei mit etruskischem und eines mit phönikisch-punischem Text, konnten diese Forschungslücke nicht füllen, da der semitische Text nur eine ungefähre Zusammenfassung des längeren etruskischen ist, weshalb in diesem Fall nur von einer Quasi-Bilingue gesprochen werden kann. Immerhin sind die Pyrgi-Texte von großem kulturgeschichtlichen Wert, da sie uns den Gründer des Haupttempels, einen bis dahin unbekannten Thefarie Velianas, König von Cerveteri, überliefern und darüber hinaus die gemeinsame Verehrung der etruskischen Göttin Uni und der semitischen Hauptgottheit Astarte im selben Tempel bezeugen.
 
Der längste und bekannteste etruskische Text ist nach wie vor die »Mumienbinde in Zagrab«, ein beschriftetes etruskisches Leinentuch, das in Zweitverwendung schon in der Antike um eine ägyptische Mumie gewickelt war und im 19. Jahrhundert über den Kunstmarkt in das damalige Agram gelangte. Ursprünglich etwa 3,50 m lang und 0,35 m hoch, handelte es sich um eine spezifisch etruskische Buchart in der Form eines gefalteten Leinentuches, des liber linteus, wie es literarisch und durch etruskische Darstellungen überliefert ist.
 
Die Mumienbinde in Zagreb umfasste ursprünglich mindestens zwölf »Seiten«, das heißt zwölf senkrecht angeordnete Schriftkolumnen, mit sorgfältig aufgemalten Buchstaben und Wörtern. Es handelt sich um einen Opferkalender. Er enthielt unter anderem die festgelegten Daten und äußeren Formen für die Kulthandlungen, die Opferformeln selbst und die Namen der Gottheiten, denen die Opfer galten. In der Struktur des Textes zeigen sich deutliche Übereinstimmungen mit den »Iguvinischen Tafeln« in Gubbio. Da deren umbrischer, dem Lateinischen verwandter Text besser verständlich ist, können heute von den fast 1 300 erhaltenen Wörtern der Mumienbinde immerhin etwa 500 in ihrem Sinn erfasst werden.
 
Im Hinblick auf eine vollständige »Entschlüsselung« des Etruskischen bleibt vorerst nur die Hoffnung auf die Entdeckung weiterer längerer Texte oder einer umfangreichen echten Bilingue des Etruskischen mit einer der bekannten Sprachen, so wie im 19. Jahrhundert der »Stein von Rosette« dank des griechischen Paralleltextes die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen ermöglicht hat.
 
Prof. Dr. Friedhelm Prayon
 
 
Die Etrusker, Texte von Mauro Cristofani u. a. Sonderausgabe Stuttgart u. a. 1995.
 Pallottino, Massimo: Etruskologie. Geschichte und Kultur der Etrusker. Aus dem Italienischen von Stephan Steingräber. Basel u. a. 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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